RadioDifficulture — 10. April, 2022
Radio LoRa, 97.5 MHz — SO21, 20220213, 21.45-22.30 Uhr
TERVISEKS — round table flyings swarm of neighbours — (( liebe deinen Nachbarn wie dich selbst ))
Mit: Marit Mihklepp, Mark Forsythe, Karol Henryk Popinski, Timmy Thomas, Sergey Prokofiev und vielen namenlosen Stimmen aus der Welt der Medien.
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»20220410_RadioDifficulture_TERVISEKS — round table flyings warms of neighbours» ( 45 min + 15 Min Supplement ) als mp3 hoeren:
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TERVISEKS ist das Estnische Wort fuer »Prost», »Cheers»
Es war erstaunlich, wie sehr sich in den letzten Wochen die gefuehlte Distanz zu Osteuropa reduziert hat. Die Distanz oder eher ‹eine Distanziertheit‹ verringerte sich mit dem Rush an Meldungen, die von allen Seiten auf einen durchschnittlichen »Medienkonsumenten» einprasseln. Mein ganzes Wesen ist zutiefst dominiert, hypnotisiert, verwirrt, ja vielleicht besessen von den Geschichten und Bildern, die mein Auge erreichen (mein Aug ist mein Ohr). Selbstverstaendlich habe ich immer beim Lesen und Schauen die kleine »Media-Consumers-Waagschaale» bei mir, die mich sorgfaeltig zwischen »‹Wahrheit‹ und ‹Luege‹» oder »‹Pathosformel‹ und ‹Nuechternheit‹» abwaegen laesst. — So war es toll, gerade jetzt persoenlich jemandem aus Estland zu begegnen, — nicht um aktuelle Nachrichten aus erster Hand zu bekommen, sonder eher um etwas ueber Grundeinstellungen, Weltverstaendnis oder Mentalitaet zu erfahren.
Ich suche nach der Manifestation bestimmter oder unbestimmter Strömungsgesetze, die sowohl im Wasser als auch in Zusammenhängen lebendiger Strukturen erkennbar sind. — So zum Beispiel im eigenen Körper, in einem Vogelschwarm oder in einer menschlichen Gesellschaft, in der die Anzahl der Mitglieder eher einem Schwarm als einer Herde entspricht.
Die neuliche Gelegenheit war, die estnische Kuenstlerin Marit Mihklepp in unserer Kueche kennenzulernen und mit ihr zum Besipiel ueber Schwarmgeschichten zu sprechen. Ich mag es, dass ich dank unserem WG-Leben immer mal wieder neue Leute in den eigenen vier Waenden kennenlernen darf. Marit hat waehrend sie bei uns einquartiert war, fuers Theaterhaus Gessnerallee eine sehr huebsche poetische Audioperformance gemacht, in der es um Steine und Heizungen ging.
In unserem Gespraech gab es die Uebereinkunft, dass wir die Menschen als eine Vogelart betrachten. Das ist quasi zu einem meiner Grundsettings geworden, das sich langsam aber sicher in meinen Kopf eingeschlichen hat. — Es ist interessanter zu sagen, wir stammten von den Voegeln ab, als etwa zu sagen wir seien Affen, — oder wir seien aehnlich wie die Schafe. — Marit zum Beispiel ist uns aus einem nordischen Schwarm zugeflogen, aus einer der Baltischen Republiken. Ich hab schon immer die Voegel besonders bewundert, die bis weit in den Norden vordrangen. Ihre weiten Fluege folgen den fliessenden klimatischen Schwankungen von Sommer und Winter. Die im Norden sesshaften Menschen kennen einen fuer uns kaum vorstellbaren Taumel des Lichts.
Wir reden ueber die Stadt, in der wir gerade sind, ueber die vielen alten Baeume, die ihr hier auffielen, aber auch ueber die Sterilitaet einer auf Konformismus getrimmten Welt, und im Kontrast dazu ueber den beglueckenden Wert der Begegnung zwischen offenen, inspirierten und interessierten Menschen. — Zum Beispiel: In der Begegnung einer Gruppe von sechs Menschen verschiedenen Geschlechts verschiedenen Alters, — in einer Tischrunde bei Essen und Trinken — passiert so etwas wie eine gedanklich-zwischenmenschliche Verschaltung der Geister. Durch die gemeinsame Sprache, die fuer fuenf von den sechsen am Tisch eine Fremdsprache ist, koennen sich unsere Biocomputer wie in einer USB-Connection verschalten. — Der hoelzerne Abendtisch — besetzt durch sechs angeregt-schwatzhafte Voegel — fuehlt sich an, wie wenn es der leicht federnde Ast eines alten Baumes waere. — Spaeter in unserem Gespraech zu zweit ging es auch um die beklemmende Problematik von hierarchischen organisierten Schwarmkulturen, und von Konflikten, die zum Vorteil der Einen bewirtschaftet werden.
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Schwarm-Organisation — Schwarm-Erleben
Das Gespraech mit Marit Mihklepp ist in der zweiten Haelfte der Sendung zu hoeren.
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Das zweite Thema in der Sendung ist Alkoholismus in Russland. Ich lese den Artikel »Muetterchen Russland» aus Mark Forsythes Buch »Eine kurze Geschichte der Trunkenheit — Der Homo Alcoholicus von der Steinzeit bis heute». Hier geht es ebenfalls um Tischrunden, die aber eher als Ritual gelten koennten — zum Zwang, sich zu betrinken.
Einen Eindruck von dieser Abendtisch-Trinkkultur bekam ich selber mit, als ich vor gut 20 Jahren zehn Tage mit einer Schweizer Reisegruppe durch Georgien reisen durfte, und wir Abend fuer Abend zum froehlichen Feiern und Trinken genoetigt wurden; durch unsere liebenswerten (gar nicht etwa, wie an Stalins Abendtischrunde im zitierten Artikel, unterdueckerischen) Gastgebern. — Etwas seltsam mutet Forsythes Bezeichnung an, die aktuelle russische Regierung sei »fuersorglich», das Buch erschien in Deutsch 2019, die Orginalversion duerfte noch etwas weiter zurueckliegen . . .
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Dazwischen tauchen die froehlich zwitschernden Voegel des Maegenwiler Sandfoorequartiers auf, und unzaehlige Fragmente von Ukraine-Russland-Berichten aus den letzten Wochen. Ebenso meldet sich Karol Henryk ‹K-Roll‹ zu Wort mit einem Vierzeiler zum Vogelschwarm. — Und der Geist des kuerzlich verstorbenen Timmy Thomas wird durch seinen Song »Everybody wants to live together» gegenwaertig . . .
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